
“Görlitzer Park Nach dem Rausch”
von Harry Nutt
Frankfurter Rundschau, November 23, 2017
Anzeige
Der Tunnel, durch den man während der achtziger Jahre auf kurzem Weg die große Freifläche des ehemaligen
Görlitzer Bahnhofs in Kreuzberg unterlaufen konnte, war ebenso praktisch wie bedrohlich. Er verband zwei
durch den verwilderten Park voneinander getrennte Stadträume, aber zumindest spätabends erforderte die
Durchquerung des Tunnels einen gewissen Mut. „Element of Crime“ stand dort eine Zeit lang in großen Lettern
an der Wand des ehemaligen Zugangs zu den Bahngleisen, aber nur eingeweihte Freunde der lokalen
Rockszene wussten, dass damit die inzwischen berühmte Berliner Band gemeint war. Von kriminellen
Elementen aber ist dort noch immer die Rede. Als bevorzugter Ort des illegalen Drogenhandels hat der Park
inzwischen internationale Berühmtheit erlangt.
Dabei war alles einmal ganz anders gedacht. „Für jeden etwas und alles für jeden“ lautete Mitte der achtziger
Jahre das gestalterische Leitbild, nach dem im Rahmen der Internationalen Bauausstellung die überwucherte
Stadtbrache zu einem vielfältig nutzbaren Volkspark umgestaltet werden sollte. Die Bilanz dieses Vorhabens
aber ist verheerend.
In einem gerade erschienenen Bildband über Berliner Parkanlagen kommt der Architekt und Stadtplaner Hans
Stimmann mit Blick auf die Entwicklung des Görlitzer Parks zu einem ernüchternden Resümee: „Der Volkspark
der unmittelbaren Vorwendejahre steht gut drei Jahrzehnte nach seiner Planung beispielhaft für die
Rücksichtslosigkeit der Nutzer. (…) Eine Debatte unter Gartenarchitekten darüber, ob und wie die
nutzungsspezifische Gestaltung aus der Mitte der 1980er Jahre den aktuellen Anforderungen eines
Massenansturms angepasst werden könnte, wirkt unter dem Druck alltäglicher Sicherheitsprobleme wie ein
Abschied von der Idee des Volksparks aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.“ (Hans Stimmann, Jan Erik
Ouwerkerk: Volkspark als Bühne städtischer Selbstinszenierung. Wasmuth Verlag.)
Der Volkspark der unmittelbaren Vorwendejahre steht gut drei Jahrzehnte nach seiner
Planung beispielhaft für die Rücksichtslosigkeit der Nutzer.
Hans Stimmann in: „Volkspark als Bühne städtischer Selbstinszenierung“
Der Park ist zu einem Kampfplatz divergierender Interessen geworden, und die Ausstellung „Andere Heimaten“,
in der der amerikanische Künstler Scott Holmquist seit Dienstag auf die „Arbeit“ des Drogenhandels im Görlitzer
Park verweist, ist zuletzt nicht gerade als fruchtbarer Beitrag zur Belebung der von Stimmann angesprochenen
Debatte aufgefasst worden. Bereits seit Wochen müssen sich Holmquist und das Bezirksamt Kreuzberg, in
dessen Friedrichshain-Kreuzberg-Museum am Kottbusser Tor er auf die Herkunft der Akteure des
Drogenhandels aufmerksam machen möchte, den Vorwurf einer fragwürdigen Idealisierung gefallen lassen.
Holmquists provozierende Bemerkung über „unerschrocken und tapfer arbeitende“ Dealer im öffentlichen Raum
wurde nicht zu Unrecht als arglos verklärende Intervention in einer seit Jahren erhitzt geführten Debatte um
Sicherheit und Wohlbefinden rund um den Görlitzer Park verstanden. Es bedarf schon einer gewissen
Abgeklärtheit, um eine derart kulturell veredelte Verniedlichung eines sozialpolitischen Ärgernisses als
künstlerischen Beitrag zu akzeptieren.
Dabei ist Holmquists Anliegen, den vermeintlichen Tätern ein Gesicht zu geben, um so die Ursachen des
illegalen Drogenhandels noch einmal ganz anders zu thematisieren, nicht vollends abwegig. Die kleinen Dealer
vom Görlitzer Park, so sieht es wohl der Künstler, sind als Täter auch wieder nur Opfer eines übergeordneten
Gewaltzusammenhangs. Über solch einen Perspektivwechsel hinaus wäre es aber geboten, endlich auch eine
andere Form der Täterschaft in den Blick zu nehmen. Wer von der überwiegend afrikanischen Herkunft der
Dealer spricht, sollte von deren Abnehmern nicht schweigen. Der Görlitzer Park ist zu einer illustren Anlaufstelle
zur Befriedigung forcierter Freizeitbedürfnisse geworden, wobei zwischen gezielter Verlängerung der Partylaune
und körperlicher Selbstversehrung kaum noch zu unterscheiden ist.
Berlins Attraktion als libertäre europäische Hauptstadt des Tuns und Lassens bezieht ihre Energie eben nicht nur
aus der guten Luft, sondern seit geraumer Zeit auch aus relativ leicht zugänglichen verbotenen Substanzen. Und
es ist trotz aller subtilen Reflexion über Täter- und Opferbegriffe nicht von der Hand zu weisen, dass das dazu
gehörende Marktgeschehen Teil einer international agierenden organisierten Kriminalität ist.
Das einst so locker dahergesagte Motto „Für jeden etwas und alles für jeden“ ist auf fatale Weise
schiefgegangen, und der anschließende Versuch, von Kreuzberg aus eine liberale Drogenpolitik aufzulegen, darf
ebenfalls als gescheitert angesehen werden. War die Eroberung der öffentlichen Parks zu Beginn des 20.
Jahrhunderts noch ein emanzipatorischer Akt, so ist sie, wie das Beispiel des Görlitzer Parks zeigt, zum
Spielzeug einer rücksichtslosen Lebensstilelite geworden, die nach dem Ausklingen des Rausches rasch
weiterzieht. Am Görlitzer Park geht es nicht nur um Ruhe und Ordnung für die Anwohner, sondern ganz
grundsätzlich um die Zukunft des urbanen öffentlichen Raums.